Veitstanz

Aus Mittelalter-Lexikon
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Veitstanz (Tanzwut, Tanzplage, Tanzsucht; mlat. Chorea Sancti Viti, Ch. Sti. Johanni; wissenschaftl. Chorea chronica progressiva hereditaria, Ch. epidemica, Ch. major). Im HMA. ist in Deutschland und in angrenzenden Ländern eine rätselhafte epidemische Krankheit mit Bewegungsdrang und -störungen gekommen, die sich in Zügen orgiastisch Springender und Tanzender äußerte.
Nach neuzeitlichem Verständnis handelte es sich um eine erbliche zentralnervöse Störung, die meist zwischen dem 4. und 5. Lebensjahrzehnt auftritt, Männer und Frauen gleichermaßen betrifft und gekennzeichnet ist durch unwillkürliche, unphysiologisch-arhythmische schnelle Kontraktionen von Muskelgruppen aller Körperregionen (Hyperkinese), durch Grimassieren, torkelndem Gang und Sprachstörungen. Im weiteren Verlauf kommt es zu Wesensveränderung, Triebenthemmung und Demenz.
Im HMA. stellte der Veitstanz ein massenhysterisches Problem dar, bei dem Scharen von Männern und Frauen (dansatores, chorisatores), tagelang und bis zur Erschöpfung tanzend und springend, oft in Begleitung von Musikanten, durch die Lande zogen. Den Obrigkeiten galten die sich undiszipliniert und teilweise gewalttätig Gebärdenden als vom Bösen Geist besessen, weshalb man zur Behandlung den Besuch von Gottesdiensten, Exorzismen und Bittgebete in St.-Veits-Kirchen (z.B. in Ulm, Corvey oder Prag) empfahl. (Nicht klar vom Veitstanz getrennt waren Krankheiten wie Epilepsie (Fallsucht), Tobsucht, Eklampsie, spastische Gebrechen, Tollwut, Hysterie oder Tanzwahn. St. Vitus, einer der Nothelfer, wurde angerufen, weil er zu Lebzeiten viele Heilungswunder vollbracht hatte; u.a. hat er die Tochter des Kaisers Diocletian von einer Besessenheit geheilt.)
Über einen Ausbruch der Psychose im Jahr 1374 berichtet das "Magnum Chronicon Belgicum": "In diesem Jahre kam aus Deutschland eine wunderliche Sekte nach Aachen und ging von da durch den Hennegau nach Frankreich. Leute, beiderlei Geschlechts, vom Teufel gereizt, tanzten allenthalben herum, Hand in Hand, wohin sie nur kamen, auf den Straßen, in den Häusern und Kirchen, mit großen Sprüngen und vielem Geschrei und schämten sich dessen gar nicht." Über die gleiche Begebenheit steht in der Limburger Chronik: "Zu mitten Sommer 1374 da erhob sich ein wunderlich ding auf Erdreich, und sonderlich in Teutschen Landen, auf dem Rhein und auf der Mosel, also dass Leut anhuben zu danzen und zu rasen ... Und wurd das Ding also viel, dass man zu Köln in der Stadt mehr denn fünfhundert Däntzer fand. ... und geschah ... dass ihr ein Theil Fraw und Mann in Unkeuschheit mochten kommen und die vollbringen." Besonders heftig soll die Tanzwut von 1418 gewesen sein, die vom Elsaß ausging und in einer zeitgenössischen Reimchronik beschrieben wird:

"Ein seltsam sucht ist zu der Zeit
Under dem Volk umbgangen,
Dan viel Leut auß Unsinnigkeit
Zu danzen angefangen,
Welches sie allzeit Tag und Nacht
Ohn unterlaß betrieben,
Biß das sie fielen in onmacht,
Viel sind tod darüber geblieben."

Möglich scheint auch, dass die allgemeine Neurotisierung durch verstörende Zeitumstände (Hunger, Epidemien, Schisma), durch Erdbeben (1340 - 70) oder durch das Elend nach einer verheerenden Rheinüberschwemmung (1374) ausgelöst wurde. Die vom Wahn Ergriffenen glaubten sich von Dämonen besessen. Auf Straßen und Plätzen, auch in Kirchen, tanzten sie stundenlang unter kreischend und schreiend vorgebrachten Visionsschilderungen buchstäblich bis zum Umfallen. Anschließend kam es oft zu sexuellen Exzessen. Die Tänzer waren beiderlei Geschlechts und kamen aus den unteren Volksschichten, es waren Bettler, verarmte Bauern und Handwerker. Sie zogen in Prozessionen wie einst die Flagellanten von Ort zu Ort, ließen sich von den Geistlichen exorzieren oder wurden in ein Narrenkistlein gesperrt.
Epidemisches Auftreten der Chorea ist belegt für Kolbig (bei Bernburg; 1021), Erfurt (Kinder; 1237), Utrecht (1278), Aachen, Köln, Metz, Lüttich, Maastricht (1374) , Trier (1381) und Straßburg (1418). Am Ende des MA. kommt der epidemische Veitstanz zum Erliegen.
(s. Echternacher Springprozession, Fallsucht, Geisteskrankheiten)