Wundervölker

Aus Mittelalter-Lexikon
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Wundervölker. Beschreibungen wunderlicher, menschenähnlicher Wesen (homines monstruosi) in entlegenen Ländern wurden im MA. mit großem Interesse und ohne Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt aufgenommen und weitergegeben, Verzeichnisse von Wunderwesen waren fester Bestandteil der ma. Enzyklopädik. Einschlägige aus der Antike bekannte Quellen waren verschiedene Fassungen der Alexandererzählung (worin von sechshändigen, kopflosen und hundsköpfigen Menschen und von Amazonen berichtet wird) sowie sowie Plinius ("Historia Naturalis"), Solinus ("Collectanea rerum memorabilium") und Pomponius Mela ("De chorographia libri tres").
Augustinus fand auf die Frage, warum Gott die Menschenmonster geschaffen habe in "De civitate" (XVI 8) folgende Antwort: "Derselbe Grund aber wie für menschliche Missgeburten lässt sich auch für missgestaltete Völker geltend machen. Gott ist der Schöpfer aller, und er weiß, wo und warum etwas zu schaffen ist oder war; denn er weiß, welche Teile er gleichartig und welche er abweichend zu gestalten hat, um in der Gesamtheit ein herrliches Gewebe zu wirken." (Zit. nach Frank Meier) - Konrad von Megenberg befand dagegen in seinem "Buch der Natur" (um 1350): jene Monster seien seelenlos, die durch kosmische Einflüsse gezeugt und von tierischer Geburt seien. - Während Albertus Magnus gewisse Wundermenschen als Zwischenstufe zwischen Menschen und Menschenaffen betrachtete und andere, wie die Cynocephalen, gänzlich den Affen zurechnete, suchte Nikolaus v. Oresme den Grund für das abweichende Äußere der Monster in Defizienzen bei Zeugung und Entwicklung oder in ungünstigen Umweltbedingungen.
Wie weit derartige Vorstellungen von Wundervölkern selbst das Denken ma. Gelehrter beherrschten, kann aus manchen Reiseberichten, aus Auflistungen in kosmographischen Werken und aus den Bildlegenden in Weltkarten ersehen werden. Auf der Weltkarte von Hereford (um 1290) beispielsweise finden sich im Süden der afrikanischen Landmasse Troglodyten, vieräugige Maritimi, kopflose Blemmye, Hermaphroditen, Mundlose, Einfüßler und Ohrenlose. In Asien sind gehörnte Satyren, Lippenschattler, die Völker Gog und Magog, Kranichschnäbler, Anthropophagen und Kynocephalen eingezeichnet. In Afrika sind auf der Ebsdorfer mappa mundi Anthropophagen, vieräugige sowie nasen- oder zungenlose Menschen, Kynocephali und Troglodyten angesiedelt.
In lat. und volkssprachlichen Sammelhandschriften zu Geographie und Kosmographie finden sich regelrechte Wundervölker-Verzeichnisse, denen erst vom 14. Jh. an zunehmend Skepsis entgegengebracht wurde. Abstammung der Wundervölker, ihre Stellung im Schöpfungsplan und ihre Menschlichkeit waren Gegenstand gelehrter Diskurse (Thomas v. Chantimpre: „Ain vrag ist, von wannen die wundermenschen kömen, die ze latein monstruosi haizent, ob sie von Adam sein komen“; Isidor von Sevilla bezeichnet in seiner Schrift "Etymologiarum sive originum libri XX" monstra als Vorboten des Jüngsten Gerichts.)
Petrus de Abano ("paduanus doctor famosus", 1257-1315) unterschied Mensch und Tier anhand der Form des Kopfes; wie andere Gelehrte nahm er an, dass Monster mit menschenähnlichem Schädel missionierbar seien, dass sie durch die Taufe ihre grauenerregenden und unmenschlichen Eigenschaften verlören.
Zur Beliebtheit der Literatur über Wundervölker und Monsterwesen dürfte außer deren faszinierender Fremdartigkeit die selbstbestätigende Vergewisserung gewesen sein, dass der europäische Leser sich selbst als der Norm entsprechend betrachten durfte.
Beispiele mittelalterlicher Quellen für Wundervölker:
Buch 4 der „Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum“ (Adam von Bremen, gest um 1085),
"Liber floridus" (Lambert von St. Omer, um 1060 - 1125),
"Imago mundi" (Honorius Augustodunensis, um 1080 - um 1151),
"De proprietatibus rerum" (Bartholomäus Anglicus, um 1180 - 1275),
„De animalibus libri XXVI“ (Albertus Magnus, um 1192 - 1280),
„Liber de natura rerum“ (Thomas v. Chantimpre, um 1201 - um 1270),
„Opus maius“ (Roger Bacon, um 1214 - um 1292),
„Das Buch der Natur“ (Konrad v. Megenberg, 1309-1374),
„De causis mirabilium“ (Nikolaus v. Oresme, um 1320 - 1382),
"Imago mundi" (Petrus v. Ailly (1351 - 1420).
Noch in der Spätantike (um 40 u.Z.) entstand das in Latein abgefasste geographische Werk "De chorographia libri tres" (auch: "Cosmographia", oder "De situ orbis") des Pomponius Mela. Neben vielen realistischen Details enthält es phantastische Berichte von den Fabelwesen ferner Länder. Das Werk ist bis ins SMA. immer wieder abgeschrieben worden und endlich auch in Druck gegangen (Mailand, 1471).