Flagellanten
Flagellanten (lat. flagellatores [v. flagellare = schlagen, geißeln]; auch paenitentes, cruciferi, disciplinati [v. lat. disciplina = Schule, Zucht]; auch: Geißler [v. mhd. geiseln = mit der Peitsche züchtigen], Flegler [v. mhd. vlegelen = dreschen, geißeln]). Anno 1258, als in Italien das Volk durch Hungersnöte, Pest, geistl. und weltl. Fehden gepeinigt und dezimiert wurde, begann in Perugia der alte Einsiedler Raineri Fasani seine schaurig-faszinierenden Bußpredigten zu halten. Überzeugt, das Weltende stünde unmittelbar bevor, sah er die einzige Rettung vor der Verdammnis in sofortiger Abkehr von der schändlichen Welt und in selbstzüchterischer Buße. Er nannte sich "Gesandter des Himmels", kleidete sich nur mit einem Sack und geißelte sich während seiner Auftritte bis aufs Blut. Bald folgten ihm scharenweise bußfertige Anhänger, betend, singend und sich geißelnd. Diese Art exhibitionistischer Bußübung geriet zu einer Massenpsychose, und Geißlerprozessionen zogen durch das ganze christl. Europa. Flagellanten bildeten Laienbruderschaften, erwählten sich einen Meister, der ihnen predigte und die Beichte abnahm. Nach Österreich, Ungarn, Süddeutschland, Böhmen und Polen gelangte die Bewegung schon Anfang 1261. Ihren Höhepunkt in Deutschland erlebte sie in den Jahren 1348 und 1349, wohl als panische Reaktion auf die verheerenden ®Erdbeben, die Anfang 1348 ganz Mitteleuropa heimsuchten, und auf das Erscheinen des Schwarzen Todes im Jahr 1349.
Zu den Ritualen der Geißlerbewegung gehörten die 33 1/2tägige Bußfahrt (entsprechend den 33 1/2 Lebensjahren Christi), Einzug der Büßerschar in die am Weg liegenden Städte, dortselbst Bußpredigt, Absingen von ®Geißlerliedern, öffentliche Geißelung und Auszug. Hunderte von Geißlergruppen von jeweils einigen dutzend bis einigen hundert Leuten zogen durch die Lande und wurden in den Städten mit Glockengeläut und ehrfürchtigem Schauder empfangen. Viele Menschen schlossen sich, durch die Schrecknisse der Zeit neurotisiert, den Büßern an. Besonders in Deutschland mutierte die Geißlerbewegung zu einer messianischen, militant antiklerikalen Massenbewegung. Gehörten ihr anfänglich Bauern und Handwerker, mitunter auch Adlige und wohlhabende Bürger an, so bestand sie später aus Existenzen vom Rand der Gesellschaft – aus Landstreichern, Geächteten und Verbrechern aller Art. Frauen nahmen erst in der Spätphase der Geißlerbewegung an den Fahrten teil. Die Geißlerbruderschaften stellten sich über Papst und Geistlichkeit und nahmen für sich in Anspruch, direkt vom Hl. Geist inspiriert zu sein. In manchen Städten lösten die Geißlerhorden 1348 und 1349 Judenpogrome aus, indem sie die Juden als Brunnenvergifter und Verursacher der großen Pest diffamierten. Zusammen mit dem städt. Pöbel schlachteten sie ganze Judengemeinden ab, so in Freiburg, Augsburg, Nürnberg, München, Königsberg oder Regensburg. Der Mordlust der Geißlerhorden fiel auch ein Großteil der Judenheit in Frankfurt am Main, Köln, Mainz, Erfurt und in anderen deutschen Städten zum Opfer. Staat und Kirche, zutiefst beunruhigt von anmaßendem Sektierertum und sengender Mordlust der Flagellanten, stellten endlich die öffentliche Selbstgeißelung unter Strafe, verfolgten aufgrund einer Bulle Clemens`VI. (v. Oktober 1349) die Geißler als Ketzer, setzten sie gefangen und ließen viele hinrichten. So schnell dieser Flächenbrand aufgelodert war, fiel er in sich zusammen; bis in die Neuzeit hinein fanden sich jedoch – im Zusammenhang mit Seuchen und sozialen Krisen – immer wieder von Endzeitstimmung ergriffene Büßergemeischaften zusammen, in denen das Flagellantentum wieder auflebte.