Narr
Narr (mhd. narre, ahd. narro; spätlat. nario = Nasenrümpfer, Spötter; um 1200 in Gebrauch gekommene Bezeichnung für ein missratenes, die Gottesebenbildlichkeit entbehrendes Geschöpf; lat. insipiens, stultus; auch follis = leerer Sack, i.S.v. Körperhülle ohne gottgefällige Seele). Das abweichende Gehabe geistig oder körperlich Behinderter reizte außer zu Spott auch zum Nachäffen, dazu, sich wie ein Tor, ein Narr zu benehmen und zu kleiden (mhd. ernarren, ahd. irnarren = zum Narren werden: das Narrenkleid wurde auch affenkleit genannt). Während "natürliche Narren" i.a. aus der Gesellschaft ausgegrenzt wurden (s. Geisteskrankheiten), gelangten einzelne Schalksnarren in höfischen Dienst, wo sie außerhalb der üblichen Ordnung Narrenfreiheit genossen. Der ®Hofnarr wurde dem höfischen Gefolge zugerechnet; er war – wenngleich üblicherweise von abweichendem Äußeren – zu geistreichen Sprüchen und anzüglichen Späßen fähig. Die meisten der ma. Narrengestalten und närrischen Bräuche wurzelten dagegen in der derben Phantasie des einfachen Volkes oder gingen auf Vorbilder der fahrenden Gaukler und Possenreißer zurück. Trieben Schalksnarren ursprünglich ihr Wesen nur während der Fasnacht und auf den Bühnen (bei Fastnachtsspielen und Possen), so gab es im SMA. auch Stadtnarren, die zu beinahe jeder Zeit ihr Narrenspiel (mhd. narrenspil, narrenwerc) trieben und Gaben heischten. (Narrenteiding = Narrenstreich wurde Anfang des 17. Jh. zu Narretei verkürzt.) Seit der Mitte des 14. Jh. wurde die bis dahin übliche Barhäuptigkeit und Kahlköpfigkeit der Narren durch die Narrenkappe mit Eselsohren oder Hahnenkamm abgelöst, Dummheit und Geilheit signalisierend. Vom frühen 15. Jh. an wurden Kappe und Gewand mit Schellen besetzt. In der ma. Ikonographie findet sich häufig das Bild einer Reihe allegorischer Figuren, Untugenden und Laster verkörpernd, die vom Narren am Narrenseil vorgeführt wurden, das an ihren Nasen befestigt war. (Daher der Ausdruck "jemanden an der Nase herumführen".) Die ma. Literatur setzte dem Narren Denkmäler in den Titelhelden von "Schwänke des Pfaffen Amis" (Der Stricker, erste Hälfte des 13. Jh.) und von "Der Paffe von Kalenberg" (Philipp Frankfurter, 15. Jh.). Das sma. Narrentum gipfelte in den Figuren des Till Eulenspiegel und des Hanswurst. Um 1494 erschien Sebastian Brants "Narrenschiff", eine Verbindung der alten Schiffsmetaphorik mit der jungen Narrenidee, wobei Narrheit mit Sünde schlechthin, mit Ungläubigkeit und ewiger Verdammnis gleichgesetzt ist. (in der Abbildung zum Kapitel 103 des "Narrenschiffes" gehen all die mit Narren bemannten Schiffe zugrunde, die dem Blendwerk des "Endkrist" (Antichrist) gefolgt sind; einzig "sant Peters schifflin" gelangt ans sichere Ufer.) In einer illustrierten Schrift des flämichen Humanisten Josse Bade erscheint Eva in einem von Teufeln im Narrenhabit geruderten Schiff als die Mutter aller Nerrheit. Das Bild von Eva als der Narren Mutter war im ausgehenden MA. ein geläufiges Motiv sakraler wie profaner Kunst.
Die Theologen definierten Narrheit gemäß Psalm 52 ("Dixit insipiens in corde suo: non est deus") als Mangel an Gotterkenntnis ("Der Tor sprach in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott") und setzten Narrentum mit Sündhaftigkeit gleich. Dies fand Niederschlag in närrischen Attributen wie der Marotte (menschen- oder bocksköpfiges Narrenzepter; seit dem 14. Jh.) und dem Narrenspiegel, die auf närrische Selbstbezogenheit und Unfähigkeit zu christl. Nächstenliebe verweisen sollten.
Gegen Ende des MA. wurden Narr und Tod - beide Vertreter der Vanitas - in Eins gesetzt: auf vielen Abbildungen erscheint der Tod im Narrenkostüm.