Physiologus
Physiologus (grch., = der Naturkundige) hieß ein im 2. oder 3. Jh. in Syrien oder Ägypten entstandenes Werk, das Tiere, Fabelwesen, Pflanzen und Mineralien in 55 Fabeln unter dem Gesichtspunkt der Zeichenhaftigkeit der Welt und mit christl. Nutzanwendung vorstellt. Es wurde – wahrscheinlich von mehreren Verfassern – über einen längeren Zeitraum hinweg in griechischer Sprache auf der Grundlage grch.-röm. Literatur (Aristoteles, Plinius d. Ä., Aelian) zusammengestellt und im 5. Jh. ins Lat. ("Dicta Chrysostomi") sowie ins Äthiopische, Syrische, Koptische, Arabische und Armenische sowie in slaw. Sprachen übersetzt. Um 1070 entstand in Hirsau eine ahd. Übersetzung aus dem Lateinischen. Vom 12. Jh. an entstanden auch mhd. Abschriften (z.B. "Rede umbe diu tier", auch "Älterer Physiologus" genannt, oder die bairisch-österreichische Neuübersetzumg um 1120 in Prosa, bekannt als „Jüngerer Physiologus“), vom 12. Jh. an auch Fassungen in Versen (z.B. der "Millstädter Reimphysiologus"). Der Physiologus war Vorbild der ma. Bestiarien und beliebt als Unterhaltungs- und Erbauungslektüre sowie als Schulbuch. Neben der Bibel war er das meistübersetzte Buch des MA. Viele Tierbilder des Buchs und ihre christl. Allegorisierungen finden sich wieder in ma. Dichtung (z.B. im Minnelied), in religiöser und profaner Bildkunst und Bauplastik sowie auch in der Emblematik heraldischer Wappenbilder (z.B. Adler, Löwe, Einhorn).
Textbeispiel: Über den Ameisenlöwen [Myrmeleon formicarius, = Larven verschiedener Ameisenjungfern] liest man: "... dass von der Ameise und dem Löwen ein Tier geboren wird, welches der Ameisenlöwe genannt wird; und dieses Tier, sobald es geboren wird, verendet sogleich wieder, weil es sich nicht mit Nahrung versorgen kann, vielmehr unfähig dazu ist und des Hungers stirbt. Und dass dies wahr ist, bezeugt die Heilige Schrift, welche sagt: „Der Ameisenbär verendet aus Mangel an Nahrung“. Denn da er aus zwei Naturen besteht – wann immer er Fleisch essen will, verweigert die Natur der Ameise, welche auf Samen Appetit hat, das Fleisch; will er sich aber von Samen ernähren, widersteht die Natur des Löwen. Da er nun weder Fleisch noch Samen zu verzehren imstande ist, so geht er ein. So sind jene, welche zwei Herren dienen wollen, Gott und dem Satan, indem Gott sie lehrt, rein zu sein und der Teufel sie überredet, ausschweifend zu sein ...".
Zu den bekanntesten Tierbildern des Physiologus zählen der immerwache Löwe, der Pelikan, der sich die Brust aufreißt, um seine Jungen mit dem eigenen Blut zu atzen (allegorisch für den Kreuzestod Christi), das Einhorn, das nur von einer reinen Jungfrau gezähmt werden kann, der Vogel Phoenix, der am Ende seines außerordentlich langen Lebens zu Asche verbrennt und daraus verjüngt wieder aufersteht (christl. Symbol der Unsterblichkei), der den Ausgang einer Krankheit voraussagende Goldregenpfeifer oder der Biber, der sich die Hoden abbeißt, um den Jägern als wertlos zu erscheinen (entsprechend soll der Mensch alles Unreine abwerfen, um vom Teufel nicht weiter verfolgt zu werden).
Der Physiologus war Vorbild zahlreicher ma. Tierenzyklopädien, darunter "De animalibus" (12. Buch der Ethymologiae des Isidor von Sevilla, 6./7. Jh.), "De rerum naturis" (von Hrabanus Maurus, 9. Jh.), "De bestiis et aliis rebus" (Honorius Augustodunensis, 12. Jh.), "Liber de bestiis et aliis rebus" (Hugo von St. Victor, 12. Jh.), "Liber de natura rerum" (Thomas von Chantimpre, 13. Jh.), "De proprietatibus rerum" (Bartholomäus Anglicus, 13. Jh.), "De animalibus" (Albertus Magnus, 13. Jh.), "Das Buch der Natur" (Konrad von Megenberg, um 1350, behandelt im dritten Teil Vierfüßler, Vögel, Fische und Seeungeheuer sowie Schlangen und Insekten).
(s. Bestiarium, Ungeheuer)