Vagantenlyrik

Aus Mittelalter-Lexikon
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Vagantenlyrik (der Terminus ist eine Schöpfung der Wissenschaftssprache). Weltl. Lyrik des 12. und 13. Jh., überwiegend anonym und in mlat. Sprache – von wenigen mhd. Versen und solchen in volkssprachl.-mlat. ®Mischpoesie abgesehen. Autoren waren nicht allein kunstsinnige Studenten, sondern auch begabte geistl. und weltl. Würdenträger - jedenfalls Leute, die nichts mit den fahrenden Scholaren des SMA. gemein hatten. Lieder der Vagantenlyrik sind strophisch gekennzeichnet durch vier paarweise gereimte "Vagantenzeilen" (siebenhebige trochäische Langzeilen mit einer Zäsur nach der vierten Hebung: "Méum ést propósitúm / ín tabérna móri"). Vom Inhalt her unterscheidet man Trink-, Spiel-, Bettel-, Liebes-, Buhl-, Lügen-, Scheltlieder, auch sozial- oder kirchenkritische Lieder und Schwänke. Der Geist der Lieder atmet eine für die Zeit unerhörte Freiheit – Kirche und Geistlichkeit sind Ziele der Spottlust, Rom wird wegen seiner Sittenlosigkeit und unersättlichen Geldgier gegeißelt, dagegen werden Venus und Bacchus verherrlicht, Paris und Helena oder Aeneas und Dido als Vorbilder der Liebenden gepriesen.
Die bedeutendste Sammlung von Vagantenliedern sind die ®"Carmina Burana". Einige anonyme Liedtexte werden dem Archipoeta zugeschrieben. Die Verse dürften gesungen vorgetragen worden sein, Melodien haben sich kaum erhalten.
Als Beispiel Strophen 1 und 2 von "O Fortuna" (C.B. 17) und die Übertragung von Ernst Buschor:

O Fortuna,
velut luna
statu variabilis,
semper crescis
aut decrescis;
vita detestabilis
nunc obdurat
et tunc curat
ludo mentis aciem,
egestatem,
potestatem
dissolvit ut glaciem.

Sors immanis
et inanis,
rota tu volubilis,
status malus,
vana salus
semper dissolubilis,
obumbrata
et velata
mihi quoque niteris;
nunc per ludum
dorsum nudum
fero tui sceleris.
O Fortuna!
Schnell wie Luna
Wechselst du dein Angesicht:
Licht gewonnen,
Licht zerronnen -
Leben, dem der halt gebricht,
Kennt nur Spielen,
Ohne Zielen,
Schlägt und heilt den klaren Sinn,
Not und Plage,
Stolze Tage,
Schwinden wie der Schnee dahin.

Glückes Fülle:
Leere Hülle!
Durch die Lüfte rollt dein Rad.
Halt muss schwanken,
Heil erkranken,
Stets im Nebel führt dein Pfad;
Wo es dunkelt,
Licht nicht funkelt,
Hat mich deine Hand gepackt -
O dein Spielen,
Wahllos Zielen
Ließ mich Armen bloß und nackt.