Hildegard von Bingen

Aus Mittelalter-Lexikon
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Hildegard von Bingen (Hildegardis Bingensis, H. de Pingva, 1098-1179; Prophetissa Teutonica, Sybilla Teutonica, Gefäß des Hl. Geistes, Posaune Gottes). Sie war das zehnte Kind des Edelfreien Hildebert von Bermersheim bei Alzey und wurde mit acht Jahren in die Obhut der anverwandten Klausnerein ®Jutta von Sponheim auf dem Disibodenberg am Zusammenfluss von Glan und Nahe gegeben. Um 1112 wurde dort ein Benediktinerinnenkloster gegründet; Jutta wurde Äbtissin und Hildgard nahm aus der Hand des Bischofs Otto von Bamberg den Schleier (1114). 1136 übernahm sie als Nachfolgerin Juttas die Leitung des Klosters. Bei aller Gläubigkeit blieb Hildegard ihres adligen Standes bewusst und tauschte sich auf gleicher Augenhöhe mit den Großen ihrer Zeit aus. 1147/48 gründete sie auf dem Rupertsberg bei Bingen ein eigenes Kloster, dem sie von 1150 an bis zu ihrem Tod als Äbtissin vorstand. (Hildegard hatte den Platz als Standort ihres Klosters erkoren, an dem im 7. Jh. der hl. Herzogssohn Rupert zusammen mit seiner Mutter Berta und dem Priester Wigbert begraben und verehrt worden waren.) 1163 stellte Friedrich Barbarossa dem Kloster einen Schutzbrief aus, in dem die Bezeichnung "abbatissa" erstmals urkundlich erwähnt ist. Das Kloster auf dem Rupertsberg ist zugrundegegangen, während das ebenfalls auf Hildegard zurückgehende Kloster Eibingen (bei Rüdesheim; gegr. 1165) noch heute besteht.
Hildegard gilt als erste große Mystikerin. Sie selbst grenzte sich jedoch ausdrücklich von den ekstatischen Gotteserfahrungen der Faruenmystik ihrer Zeit ab: "Die Gesichte, die ich schaue, empfange ich nicht in traumhaften Zuständen, nicht im Schlafe oder in Geistesgestörtheit, ... sondern wachend, besonnen und mit klarem Geiste ...". Trotz ihrer schwächlichen Konstitution und ihrer häufigen Erkrankungen war sie von immenser Schaffenskraft. Ihr wichtigstes Anliegen war der Kampf gegen die Verweltlichung des Klerikerstandes, worüber sie auch mit Bernhard von Clairvaux in Gedankenaustausch stand. Sie führte zu weltl. und geistl. Fragen eine umfangreiche Korrespondenz mit Päpsten, Kaisern, Prälaten, Nonnen, Mönchen und Laien, schrieb theolog. Werke (z.B. "Liber vitae meritorum", "Liber scivias Domini") und fasste im "Liber divinorum operum" ihre insgesamt unklaren und verworrenen apokalyptischen Prophezeiungen zusammen. Von den in "Sci vias seu visionum et revelationum libri tres" (veröffentlicht 1151) gesammelten 26 Visionsberichten wurden auf einer Synode zu Trier (1147) die bis dahin niedergeschriebenen als echt bestätigt. Außerdem verfasste sie mystische Traktate, dichtete und vertonte über 70 geistliche Lieder (Hymnen, Antiphone), die in Sammelhandschriften (z.B. dem Rupertsberger Riesencodex) überliefert sind und schuf musikalische Mysterienspiele (z.B. "Ordo virtutum", in dem die Allegorien der Tugenden singend, der Teufel dagegen in einer Sprechrolle auftreten.) Über den Begründer des Klosters Disibodenberg, den irischen Wanderbischof Disibod (619-700), schrieb sie eine überschwengliche, auf visionären Eingebungen beruhende vita.
Neben ihren geistl. Schriften verfasste Hildegard vielgelesene naturkundliche Werke. So den "Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum", bestehend aus "Liber simplicis medicinae" (Naturkunde der einfachen Heilmittel, genannt "Physica") und "Liber compositae medicinae" (über zusammengesetzte Heilmittel, genannt "Causae et curae morborum"). Besonders das Heilkräuter- und Heilkundebuch "Physica" erfreute sich großer Beliebtheit. Darin finden sich nicht nur die aus älteren Herbarien bekannten Heilkräuter, sondern auch solche aus der Volksmedizin, die konsequenterweise mit ihrem deutschen Namen bezeichnet werden. Außerdem behandelt es die heil- und unheilbringenden Kräfte von Elementen, Tieren und Metallen. „Causae et curae“ verbindet die Säftelehre mit kosmologischen ind biblischen Vorstellungen und stellt eine wertvolle Quelle für naturkundliche Erkenntnisse ihrer Zeit dar. Ihr "Liber de lapidibus" fußt auf antiken Quellen (Plinius, Dioskurides) und beschreibt die Heilwirkung und die symbolische Bedeutung der Edelsteine. (Edelsteine, aus Feuer und Wasser bestehend, erinnern den Teufel an das Feuer, mit dem er für seinen Abfall bestraft wurde; daher hasst er sie, aber sie wirken seinem Hass entgegen.) In ihrer heilkundlichen Schrift "Causae et curae" erklärte Hildegard gemäß der Säftelehre die Krankheitsentstehung aus Überschuss und Verderbnis der Körpersäfte. Die Symptomatik der nach dem Schema "von Kopf bis Fuß" aufgelisteten Leiden deutet die Autorin je nach der Zugehörigkeit des Patienten zu einem der vier ®Temperamente. Erstaunlich offen und kenntnisreich äußert sie sich zu Fragen des Sexualverhaltens und der ®Geschlechtskrankheiten.
Neben vielen erprobten Mitteln der Klosterheilkunde enthalten ihre Schriften auch kruden Unsinn wie z.B. eine Rezeptur gegen alle Schweinekrankheiten, bestehend zermahlenen Schneckenhäusern und Dill (s. Rotlauf. Gegen Vergesslichkeit rät sie, einen Brei aus zerstoßenen Brennnessel-Blättern und Baumöl auf Brust ud Schläfen einzureiben.
Außer durch ihre schriftl. Werke (bei denen sie sich einer eigentümlichen mlat./mhd. Mischsprache bediente) tat sich Hildegard – ungewöhnlich für eine Frau des 12. Jh., zumal für eine Nonne – als Wanderpredigerin hervor. Sie hielt öffentliche prophetische Mahnpredigten vor Volk und Klerus, argumentiert gegen Ketzer und pflichtvergessene Kleriker. Ihre Predigtreisen führten sie zwischen 1160 und 1170 nach Köln, Metz, Würzburg, Bamberg und in 15 weitere Städte.
An ihrem Todestag ereignete sich der Legende nach eine überirdische Lichterscheinung über ihrem Sterbezimmer, und zwei Kranke, die ihren Leichnam berührt hatten, wurden gesund. - Man gedenkt Hildegards, die im Volk schon bald als Heilige verehrt jedoch bis heute nicht kanonisiert wurde, an ihrem Todestag, dem 17. September. Ihr Grabschrein in der Pfarrkirche von Eibingen ist ein beliebtes Wallfahrtsziel.
(s. Aderlass, Brennen (Med.), Krankheiten, Lapidarium, Parasitenbefall, Säftelehre, Trunkenheit, Ungeziefer, Zeugung)