Armut

Aus Mittelalter-Lexikon
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Armut (mhd. armuot; lat paupertas). Schon im 9. Jh. begreift sich die ma. Gesellschaft als eine Gemeinschaft von "arm und reich". Armut wurde dabei nicht nur im materiellen Sinn verstanden, auch der Abhängige, Macht- und Recht- und Schutzlose (minus potens, impotens) wurde den „Armen“ (pauperes) zugerechnet, selbst wenn er nicht darben musste. Erst im SMA. wurde – unter dem Einfluss der städt. Gesellschaftsentwicklung – der Begriff auf diejenigen eingeengt, die zum Überleben auf fremde Hilfe angewiesen waren (auf die egeni und indigentes, die Armen und Bedürftigen).
Armut wurde als gottgegeben angesehen, und gottgefällig war die Barmherzigkeit (caritas). Die Armenfürsorge hatte einen hohen Rang, galt als Heiligenideal und wurde hauptsächlich von Klöstern und geistlichen Hospizen wahrgenommen; vom 13. Jh. an entstanden durch Laieninitiativen städtische ®Spitäler, in denen man sich neben der Alten, Kranken oder Waisen auch der Armen annahm. Der Gedanke, Armut auszumerzen, durch soziale Veränderungen zu beseitigen, kam nicht auf. Neben der real erlittenen Armut gab es das erstrebte Ideal der christlichen Armut, der Besitzlosigkeit nach dem Beispiel des Heilands und um der Seligkeit willen ("pauperes Christi"; s. Armutsbewegung).
Arm im Sinne von „am Rande des Existenzminimums lebend“, war ein großer Teil der ma. Gesellschaft (in den Städten des SMA. 30 – 40%). Neben der Masse der in Armut geborenen Leute – armen Bauern, Inleuten, Leibeigenen und Nichtsesshaften – gab es auch viele stellungslose Kleriker, darbende Vikare und manchen mittellosen nachgeborenen Ritter. Dazu kamen jene, die ein ungnädiges Schicksal an den Bettelstab gebracht hatte: körperlich oder geistig Behinderte, durch Krieg, Hungersnot oder Seuchen Entwurzelte, wegen Schulden von Haus und Hof Vertriebene, aus dem Sold entlassene Krieger, missbrauchte oder verführte Mädchen und viele anpassungsunfähige Außenseiter. Stets standen die, welche sich von geringbezahlter Gelegenheitsarbeit durchbringen konnten, noch weit über jenen, die sich zu Bettel oder Kriminalität gezwungen sahen. Der Anteil derjenigen Stadtbewohner, die auf Armenfürsorge angewiesen waren, dürfte unter 10% gelegen haben (belegt für Köln, 1474). Arm und elend waren synonym, wobei elend vom ahd. elilenti (landlos, vertrieben) kommt und sich auf die Unbehaustheit vagierender Bettler bezog. Und diese waren überall, in Schwärmen oder vereinzelt, an Kirchenportalen und Klosterpforten, bei Märkten und Messen, bei hohen Festen und beim Kirmestanz. Dabei gab es neben den wirklich geschlagenen, den Blinden und Lahmen, den Verstümmelten und Krüppeln, eine große Zahl von Blendern und Betrügern, und auch anderweitig fühlten sich Kriminelle – Armut vortäuschend (paupertas simulatoria) – in der Bettlerschar wie die Fische im Wasser. Vagabundierende Bettlerbanden galten – anders als der ortsansässige, ehrbare Arme – als potentielle Unheil- oder Unruhestifter und wurden in unruhigen Zeiten angefeindet und von den Städten ausgesperrt. Groß war auch das Wohnungselend der Armen in der Stadt. Nach zeitgenössischen Berichten hausten sie in Verschlägen auf Kirchhöfen, in Bauten, die auf Abriss standen, in Gängen, unter Treppen, in Kellern und Hinterhäusern – insgesamt eher in den Vorstädten und am Stadtrand als im Zentrum.
Immer häufiger wurden vom HMA. an ®Bettlerordnungen erlassen (so Nürnberg um 1350) und ein Bettelvogt (Prachervogt, Sterzermeister) für die rechtlichen und sozialen Belange der Bettlerschaft ernannt.
Neben der städtischen Armut gab es eine ländliche. Ihr sind Leute zuzurechnen, deren Besitz nur zu einer kärglichsten Subsistenz ausreichte, nicht jedoch dazu, eine Familie zu gründen (s. Hagestolz). Diese Kleinbauern waren jedoch noch relativ wohlhabend gegenüber den inwohnern (instleute, insten), die nicht den geringsten Besitz an Feldern und Wiesen hatten. Diese lebten von einem kleinen Verdienst als Tagelöhner.
Der Armut begegnete die Kirche zwar mit milder Nächstenliebe, sah in ihr geradezu eine Notwendigkeit, um christl. Barmherzigkeit üben (s. Almosen) und damit Verdienste erwerben und Sündenschuld mindern zu können, dennoch galt der Bettlerstand als unehrlich und damit rechtlos, ohne dass die Kirche widersprochen hätte. Gründe für die Verfemung dürften gewesen sein, dass ein Großteil der Bettler unbehauste, umherschweifende Kriminelle waren, die ihren Lebensunterhalt aus Betrug, Unzucht, Diebstahl oder Wilderei bestritten, dass ihr krasses Elend Abscheu auslöste und die Furcht erregte, selbst so werden zu können, und dass viele Leute Angst hatten, von einem nicht zufrieden gestellten, feindseligen Bettler verflucht zu werden.
Art und Ausmaß der Armut erhellt aus zeitgenössischen Chroniken, aus Steuerlisten, Stiftungsurkunden und Aufzeichnungen von Hospizen und Armenhäuser. Auch in geistlicher und weltlicher Literatur, in Malerei und Plastik findet sich das Jammerbild der Armen, Kranken und Missbildeten, der hilfsbedürftgen Pilger, heischenden Bettler und zerlumpten Bauern. In der Welt höfischer Ideale galt Armut als schwerer Mangel („armut hoenet den degen“). Das guot gehörte zum rechten Rittertum, richlichez guot war Voraussetzung für standesgemäßes Turnieren und Geben: "ritterschaft und ere diu muz kosten sere, daz ist ein site unmazen alt". Mangel an guot konnte allenfalls durch die "rechte maze" des "edlen armen" ausgeglichen werden. Bei der „Armut“ im Adelsstand hat es sich jedoch nur in Ausnahmefällen um eine wirkliche Notlage gehandelt; zumeist war es relative Armut („paupertas comparativa“), die standesgemäße Lebensführung und Freigebigkeit nicht zuließ.
(s. Armenhaus, Bettler, Reichtum, Seelbäder)