Tierdichtung

Aus Mittelalter-Lexikon
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Tierdichtung. Literarische Gattung, bei der Tiere als Handlungsträger auftreten und menschliche Typen, Verhaltensweisen und Handlungen mit den Mitteln der Parodie und Satire bloßstellen. Dementsprechend werden Tiere nicht nach ihrer vitalen Wirklichkeit geschildert, sondern in ihrer Funktion für den Menschen, als Träger christl. Symbolik oder auch vermenschlicht, beseelt, gar zum Zwiegespräch fähig.
Das älteste erhaltenen ma. Tierepos ist die "Ecbasis cuiusdam captivi per tropologiam" ("Flucht eines Gefangenen in belehrender Gestalt"), verfasst von einem Mönch in Lothringen um die Mitte des 11. Jh. In dieser satirischen Allegorie um die Flucht eines Mönches (Kalb) aus der sowohl schützenden wie bedrückenden Umhegung (Kloster) in die Welt (Höhle des Wolfes) und seine Rettung daraus beschreibt der Autor in 1170 Hexametern sein eigenes Schicksal und das des zeitgenössischen Mönchtums insgesamt. Die Erzählung ist mit Anspielungen auf die Zeitgeschichte und mit Zitaten antiker Autoren angereichert.
Um die Mitte des 12. Jh. entstand das dem Kleriker ® Nivardus von Gent zugeschriebene mlat. Tierepos "Isengrimus", das von der Feindschaft zwischen dem gierigen und tumben Wolf Ysengrimus und dem schlauen Fuchs Reinhardus erzählt.
Der listenreiche und rücksichtslose Fuchs wurde zu einer der beliebtesten Figuren ma. Tierdichtung. Zum Protagonisten wird er aber erst in dem anonymen frz. "Roman de Renart" (um 1170). Dessen mhd. Nachdichtung "Reinhard Fuchs" (von ®Heinrich der Glichezaere, um 1185) ist ein unverhüllter Angriff auf das Selbstverständnis der höfischen Gesellschaft: der König ist bestechlich, Lehnsherr und Vasall betrügen sich gegenseitig, der hinterlistige Fuchs kommt zu höchsten Ehren.
Zur Gattung der Tierdichtung gehören neben der Großform des Tierepos (das sich als Aneinanderreihung von Fabeln in einer übergreifenden Rahmenhandlung beschreiben lässt) noch ®Fabel, ®Tierschwank, ®Tiermärchen und ®Bestiarium.