Wissenschaft
Wissenschaft (mhd. wizzen[t]schaft = Wissen, Genehmigung; lat. scientia). Der moderne Begriff einer objektiven, wertungsfreien Methode zur Erschließung von nachprüfbaren Aussagen über natürliche Gegebenheiten ist grundsätzlich verschieden von dem ma. Wissenschaftssystem, das stets als große Einheit von göttlicher Offenbarungswahrheit und der Summe aller irdischen, sich gegenseitig durchdringenden Wissensstoffe gedacht wurde. Theologie, Philosophie, die Freien Künste und die Naturwissenschaften bildten für den geistigen Menschen des MA. – von Vertretern wissenschaftsfeindlicher, asketischer Strömungen abgesehen – ein Ganzes. Hauptziele der Wissenschaft waren die Erforschung der übersinnlichen, unsterblichen Dinge, die Untermauerung der Offenbarungsreligion, das Ergründen der biblischen Weisheiten und die Sinnermittlung biblischer Allegorien. Nach Thomas v. Aquin strebten alle Menschen von Natur aus nach Wissen, und Wissenssuche sei so weit legitim, als sie nicht eitler Neugier (dem Laster der curiositas), sondern dem Streben nach rechter Gotteserkenntnis diene. – Wissenschaft und Wissensvermittlung waren beherrscht von strenger Traditionalität: überlieferte Schriften, sog. ®Autoritäten (auctoritates, Schriftsteller bzw. Texte von herausragender Bedeutung, z.B. die Bibel, Schriften der Kirchenlehrer und anderer anerkannter Schriftsteller), wurden durch Kommentare und Glossen vermehrt, wobei man sich bewusst blieb, dass man auf Gedanken früherer Menschen aufbaute. (Bernhard v. Clairvaux: „Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen. Wir können mehr und weiter sehen als diese, nicht aber, weil wir einen schärferen Blick oder eine stattlichere Gestalt hätten, sondern weil deren Größe bewirkt, dass wir gehoben und gestützt werden“.) Wissenschaftlicher Fortschritt bestand somit in Durchdringung, Anreicherung und Vermehrung des tradierten Wissensrepertoires.
Im 12./13. Jh. wurden die Wissenschaften wesentlich von zwei Faktoren befruchtet: Von den aufstrebenden Universitäten und von der Adaptation arabischen Wissens, das vor allem in griechischer Tradition wurzelte und durch die Tätigkeit der Übersetzer zugänglich gemacht wurde. Der Wissensaustausch zwischen den Nationen wurde durch die lateinische Universalsprache erleichtert.
Scholastische Denker errichteten hierarchische Ordnungssysteme der Wissenschaften, so etwa ®Hugo von St. Victor oder ®Raimundus Lullus. Unkritisches Quellenstudium und Kompilierung überkommenen Wissens überwogen dabei weithin die Ansätze zu Empirie und praxisnaher Forschung. Das Lesen und diskursive Durchdringen anerkannter Schriften stellte die eigene, kritische Wahrnehmung der Umwelt weithin in den Schatten. Erst Experimentatoren wie ®Gerbert von Aurillac, ®Robert Grosseteste, ®Roger Bacon und ®Dietrich von Freiberg unterschieden zwischen weltl. und geistl. Wissenschaft. Endgültig zerfiel die ganzheitliche Betrachtungsweise gegen Ende des MA.; zwar war das Generalthema der Wissenschaftler weiterhin „Gott und die Welt“, doch wurden religiöse Glaubenswahrheiten und Erkenntnisse rationaler Forschung nunmehr gesondert betrachtet. Man versuchte, die Welt durch Messen und Wiegen sowie durch abstrakte Beschreibung von Strukturen, Kräften und Bewegungen darzustellen. Daraus sollten sich weitreichende Konsequenzen für einen technologischen Fortschritt und für das praktische Leben ergeben. - Es muss jedoch bedacht werden, dass während des gesamten MA. und noch bis weit in die Neuzeit hinein die wissenschaftliche Denkweise – wie das übrige Denken, Fühlen und Handeln – im Symbolismus verhaftet war: nicht die Dinge an sich wurden wichtig genommen, sie galten als Zeichen für Dahinter- und Darüberstehendes, für Benachbartes, für höhere geistige Ordnung. So konnte z.B. ein Löwe nicht als solcher, sondern als Symbol Christi von Belang sein.
(s. islamische Wissenschaften, jüdische Wissenschaft, Naturwissenschaften, Zweifel;
zu Wissen um praktische Tätigkeiten s. bäuerliche Verrichtungen, Handwerk)