Gesellschaftsordnung

Aus Mittelalter-Lexikon
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Gesellschaftsordnung. Während des gesamten Mittelalters wurden Modelle einer Gliederung oder Schichtung der Gesellschaft entworfen. Diese Entwürfe umfassten zwar stets alle Christenmenschen, die gesamte „Societas christiana“, unterschieden aber je nach Geschlecht, Macht, Besitz, Ansehen, Bildung oder Tätigkeit unterschiedliche Stände (ordines). Die Standesunterschiede wurden als göttlichem Gesetz entsprechend, als naturgesetzlich und prinzipiell nicht aufhebbar angesehen. Erst im jenseitigen Leben würde nicht mehr zwischen Männern und Frauen, Freien und Knechten unterschieden werden. Wofern schon im Diesseits ein Rollentausch versucht würde, waren üble Konsequenzen zu gewärtigen (s. Verkehrte Welt). – Die sächsische Gesellschaft unterschied nach der „Translatio S. Alexandri“ „nobiles“, „liberi“, „liberti“ und „servi“. In karolingischen Quellen finden sich: eine Zweiteilung in „clerus“ und „populus“, eine Dreiteilung in „defensores“, „oratores“ und „laboratores“ und eine Vierteilung in „oratores“, „defensores“, „mercatores“ und „laboratores“. Notker I. v. St. Gallen teilt Klosterschüler in „nobiles“, „mediocres“ und „infimi“ ein.
Eine hochmittelalterliche Ständehierarchie umreißt ein Vers des Hugo von Trimberg (etwa 1300):

Pfaffen, ritter und gebure
sint all gesippe von nature ...

Etwa zur gleichen Zeit dichtet Barthel Regenbogen:

Der pfaffe, ritter, bumann, die dri sölten sin gesellen:
Der bumann sol dem pfaffen und dem ritter ern,
so sol der pfaffe den bumann unt den ritter nern
vor der helle, unt sol der werde ritter wern
dem pfaffen und dem bumann, die in tuon icht übels wellen.
Nu dar, ir edelen, werden dri gesellen.

Pfaffen (oratores), Ritter (pugnatores, milites) und Bauern (agricultores, laboratores, rustici) entstammen zwar einer gemeinsamen Wurzel, haben aber je eigenen Aufgaben nachzukommen. Die betenden Kirchenleute als Mittler zu Gott sowie die waffenführenden und herrschenden Adelsleute lebten von der Arbeit des mit 90 % größten Bevölkerungsteils, der Bauern. Diese ungleiche Teilhabe an der Arbeitslast wurde als gottgewollt empfunden und mit der Verworfenheit des Stammvaters der Bauernschaft, Cham, begründet. Neben dieser dreistufigen Pyramide galten weiterhin zweistufige Systeme von Mächtigen (potentes) und Machtlosen (pauperes) oder von Klerikern (Lehrstand) und Laien (Wehrstand und Nährstand). Vom 12./13. Jh. an traten neben die Landleute in wachsender Zahl die Angehörigen städtischer ® Unterschichten.
In der theologischen Lehrschrift "Lucidarius" des ® Honorius Augustodunensis wird die menschliche Gesellschaft mit dem Leib Christi und weiter mit den Gliedern des menschlichen Körpers und ihren Funktionen den verglichen. Dabei entsprechen beispielsweise die Augen den Propheteten, die das Kommende vorhergesehen haben, der Mund den Lehrern, die Hände den Verteidigern der Kirche und die Füße dem Nährstand. - Diesem Bild folgt Johannes von Salisbury in seinem ® Policraticus.
Hildegard v. Bingen verteidigt die Sonderstellung des Adels, wenn sie schreibt: "Er (Gott) hat acht, dass der geringe Stand sich nicht über den höheren erhebt, wie Satan und der erste Mensch getan, da sie höher fliegen wollten, als sie gestellt waren. Welcher Mensch sammelt seine ganze Herde in einem einzigen Stall, Ochsen, Esel, Schafe, Böcke, ohne dass sie auseinanderlaufen? Darum soll man auch hier den Unterschied wahren. ... Denn Gott hat dem Volk auf Erden Unterschiede gesetzt, ... Sie alle werden von Gott geliebt und haben doch nicht die gleichen Namen."
Von Berthold von Regensburg stammt ein Versuch, die zunehmend komplizierter werdende Gesellschaftsstruktur analog der Engelshierarchie zu gliedern: den neun Chören der ®Engel stellte er neun Chöre der Menschen gegenüber, deren niedrigere jeweils der höheren unterworfen war. Auf die erste Gruppe der Priester mit dem Papst an der Spitze folgte die der Mönche, die der weltlichen Richter (wozu der Kaiser und alle weltlichen Herren zählten), die der Produzenten von Kleidung und Schuhen, die der Handwerker, die mit eisernem Werkzeug arbeiten (Steinmetz, Schmied, Zimmermann usf.), die der Groß- und Fernkaufleute, die der Kleinhändler, die der Bauern und letztlich die 9. Gruppe der Ärzte. Dem 10. Chor der abgefallenen Engel sollte in der menschlichen Gesellschaft als 10. Gruppe die der Gaukler und Schauspieler entsprechen, deren Seelen zur ewigen Verdammnis bestimmt waren.
Die vielgestaltige Differenzierung und Schichtung der sma. Gesellschaft nach Geburt, Bildung, Dienstverhältnis, Amt, Besitz, rechtl. Status (frei-unfrei), Gruppenzugehörigkeit (Gilden, Zünfte, Bruderschaften) usf. und deren fließende Übergänge lässt eine weitergehende Systematisierung sinnlos erscheinen. Insgesamt dürfte die gesellschaftliche Schichtung, zumal gegen Ende des MA. und in den Städten, eher dynamisch als statisch gewesen sein. Eine Besonderheit der ma. Gesellschaftsordnung war die Unterscheidung nach „ehrlichen“ und ®„unehrlichen“ Leuten, womit keine Bewertung nach kriminalrechtlichen Gesichtspunkten verbunden war, sondern die Anruchtig- und Rechtlosmachung eines bestimmten Berufs (z.B. Henker, Schinder, Büttel) oder einer gesellschaftlichen Randgruppe (z.B. Juden, Zigeuner, Bettler, Prostituierte).
(s. Adel, Bauer, Bäuerin, Bürger, Fahrende, Gelehrte, Handwerker, Juden, Kaufleute, Kleriker, Laien, Mönch, Patrizier, Ritter, Unterschichten; Heerschild)